Franziska Schmidt . Berlin - Kunst Foto Historikerin, Germanistin
Sonja Wegener, Vereiste Blicke
Eißfeldts Meister: Langer, Weidner, Wegener, Göttingen 2006
SONJA WEGENER: 'VERREISTE BLICKE'
Der Titel dieser aktuellen Serie von Sonja Wegener, im März 2006 entstanden, spielt in seiner semantischen Auslegung mit zweierlei Lesarten: „verreisen“ / „vereisen“. Der erste Begriff impliziert Bewegung, Lebendigkeit, Sehnsüchte und Gefühle. Die andere Wortwahl beinhaltet Stillstand, Stagnation, Einsamkeit und Festigkeit. Wegener assoziiert und entwirft eine poetische Bildfolge, basierend auf grundsätzlichen Themen des Menschen: Liebe und Hass, Verbundenheit und Isolation, Identität und Authentizität. Die Aufnahmen wandeln sich zu Skizzen fiktiver, innerer Seins-Zustände der dargestellten Protagonisten.
Rätselhaft und magisch wirken die eng ins Bild gefassten Portraits einer jungen Frau und eines jungen Mannes, abwechselnd wie in einem Dialog als Paar oder aber einzeln dargestellt. Die ins Leere gehenden Blicke, die in sich gekehrte Haltung, der fehlende Ausdruck alltäglicher Gefühlszustände befremden indessen, verleihen den Aufnahmen eine vom blossen Abbild unabhängige, autonome, tiefere Bedeutungsebene. Anmutig, schön und unerreichbar erscheinen die Dargestellten; beruhigend und doch seltsam wirken die Farbkombinationen rot und blau vor dem dunklen Hintergrund. Alles in der Aufnahme erscheint klar und konzentriert; und doch entzieht sich das Sichtbare der bloßen und simplen Interpretation.
Sonja Wegener gelingt eine Arbeit, die empfindlich und einfühlsam zwischen Studie, Porträt und dramatischer Inszenierung oszilliert. Das offene, markante Gesicht der Protagonistin, ihre ausdrucksvollen Augen, die Insistenz ihres doch rätselhaft verbleibenden Blicks verleiht den Aufnahmen eine Intensität, die sich aus dem Zusammenspiel von Haupt- und Nebenfiguren und der entsprechenden visuellen Impulse und Resonanzen ergibt. Die Bedachtsamkeit ihrer Augen, gibt der angedeuteten Begegnung den Reiz einer filmischen und doch intimen Präsenz, die von einer rätselhaften Aura, zwischen Abenteuer, Erinnerung, Abschied und Wiedersehen umgeben ist.
Die Großaufnahme der weiblichen Hauptdarstellerin unterläuft die Grenze, an der noch ein Portrait zwischen Nähe und Distanz, ein harmonisches Auspendeln von Verbergen und Offenbaren möglich wäre. Wegener studiert eindringlich das weibliche Antlitz wie eine Landschaft, wie einen Körper, zwischen physiognomischer Präsenz und imaginativer Evokation. Das weibliche Subjekt gerät in den Fokus der Kamera, mit seinen stillschweigenden Erwartungen, Sehnsüchten und Begierden. Auf diese Weise entsteht ein intuitiv vom Betrachter nachzuvollziehendes Affektbild, der Blick des Rezipienten kreuzt sich mit dem Blick der Protagonistin. Die Studie konstruiert ein Portrait, lädt es auf zur „Identifikation einer jungen Frau“ (Antonioni) und gibt der möglichen Begegnung mit ihrem männlichen Alter-Ego die Qualität einer poetischen Konfrontation in Form einer psychologischen Spiegelung in einem ortlosen verdunkelten Raum der Fotografie. Die Bilder offenbaren Innenwelten, Räume voller Sehnsüchte, Ängste, Wünsche. Sie sind gleichzeitig das Gegenüber des Bildbetrachters und der Eingang in ein anderes Selbst.
„Verreiste Blicke“ – das sind leicht verstellte Perspektiven, unmerklich verstörte Sehweisen, Szenen, die sich zugleich in Bewegung wie in der Stagnation befinden, Momente von Ungleichzeitigkeiten, in denen die Protagonisten einander verfehlen, aber gerade dadurch an der Generierung multipler Lesarten beteiligt sind, in die der aufmerksame Betrachter sich wie in ein komplexes visuelles Gewebe verwickeln kann.
© Franziska Schmidt, 2006
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