Franziska Schmidt . Berlin - Kunst Foto Historikerin, Germanistin
Eine Klasse für sich
Eine Klasse für sich. Aktionsraum Fotografie, ed. by Michael Hering, Kupferstich-Kabinett, Dresden 2014
IM DAZWISCHEN
(zu Sven Johne / Tim Rautert)
In gleißendes Laborlicht getauchte Raumfragmente, schemenhaft uniforme Gestalten in weißen Ganzkörperanzügen, Computerbildschirme, verchromte Flächen, technische Perfektion – die thematische Bildserie „Gehäuse des Unsichtbaren“ von Tim Rautert entstand als Auftragsarbeit der Siemens AG in München. Der unaufhaltsamen Entwicklung Ende der 1980er Jahre im Arbeits- und Berufsleben, einer Welt, die zunehmend immateriell, unverständlich und unwahrnehmbar geworden ist, begegnete Rautert mit ungewohnt fotografisch-ästhetischem Blick - Bilder werden zu Metaphern, Allegorien.
Erscheinen Rauterts Aufnahmen wie rätselhafte “Denk-Bilder“, die es erst zu entschlüsseln gilt, gerieren diese bei Sven Johnes „Following the Circus“ zur vermeintlich bloßen Dokumentation städtischer Peripherie: Leere Brachflächen, karge Wiesen, abseits gelegene Schotterplätze, im Hintergrund die Idylle kleinstädtischer Reihenhausiedlungen, nüchterne Platten- und Industriebauten, Stadtruinen.
Neun Monate lang folgte Johne dem ostdeutschen Wanderzirkus Probst an dessen Auftrittsorte, unmittelbar nachdem die Zelte abgebaut und die letzten Lastwagen zum nächsten Spielort aufgebrochen waren. Einem Bilderkompendium gleich reihen sich 59 Aufnahmen aneinander, von Plätzen, die - wie Leer- und Zwischenräumen anmutend - im Kommen und Gehen der Jahrmärkte mit ihren bunten Zelten und Attraktionen eine Wandlung erfahren. Zirkus bedeutet Freiheit, Sehnsucht, Magie des Lebens. Was der Titel an Intention verheißt, bricht sich in den Fotografien von Johnes Serienkonzept jedoch zur puren Ernüchterung herunter. Der Traum zerschellt und wird zum Echo.
In den Bedeutungsebenen und Bildmetaphern offenbart sich das subtile Verwirrspiel ob der tatsächlichen Sinnzusammenhänge. Beide Bildserien mögen in ihrer Herangehensweise konträrer kaum sein. Und doch beleuchten beide gemeinsame Phänomene: das Verschwinden des Menschen, die Transformation innerer und äußerer Welten. „Gehäuse des Unsichtbaren“ bildet eine dezidierte Momentaufnahme unzugänglicher, ansonsten nur in der medialen Präsenz erfahrbarer Arbeitswelten ab. Die zukunftsweisenden Technologien verlangen nach einer radikalen Veränderung der menschlichen Existenz, die den Menschen in seinen bisherigen Grundbestimmungen einerseits überflüssig machen, ihm jedoch auch neue Horizonte eröffnen werden. Indes - Die in „Following the Circus“ gleichförmige Leere jener entvölkerten Plätze steht für eine zeitlose, auch traurig-trostlose, vielleicht aber zugleich auch bewahrende Illusion. Die Unmittelbarkeit, direkte Erfahrbarkeit, das pure Erleben weicht einem Bild, einem Gedanken, einem Abdruck im Sand.
Vermittelt zwischen Erinnerung und Konstruktion, Tatsache und subjektivem Erleben, entziehen sich Rauterts und Johnes Arbeiten feinfühlig visuellen Orientierungsmustern und gängigen Wahrnehmungsschemata. Beide Arbeiten geben in der Gegenüberstellung ein tröstliches Kompendium darüber, dass es Antipoden in der Welt bedarf. In der Sinnsuche nach der menschlichen Existenz und ihrer Bedeutungshoheit, in der Frage nach Identität und Authentizität offenbart sich letzten Endes auch der immerwährende Zyklus unseres Seins.
© Franziska Schmidt, 2014
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