Franziska Schmidt . Berlin - Kunst Foto Historikerin, Germanistin
Bildnisse von Charakter und Seele
Zur Entstehung der Sammlung von Daguerreotypien im Dresdner Kupferstich-Kabinett. In: Rundbrief Fotografie, Dresden, March 2001, p.18-23
BILDNISSE VON CHARAKTER UND SEELE
Als erstes deutsches Kunstmuseum begann das Dresdner Kupferstich-Kabinett 1915 Daguerreotypien zu erwerben. Die Sammlung, die Werke namhafter Daguerreotypisten enthält, wurde zu einem Zeitpunkt angelegt, da diese Lichtbildtechnik bereits der Vergangenheit angehörte. Art und Beweggründe der Erwerbungen, denen dieser Artikel nachgeht, geben einigen Aufschluß über die Kunstauffassung und den Zeitgeschmack, die der Neubewertung der Daguerreotypien als Kunst zugrunde lagen.
”Daguerreotypien! Wem fallen bei diesem Wort nicht jene alten spiegelnden Familienbildnisse in abbröckelnden Papiermachérahmen oder verstaubten Sammetetuis ein, die man erst in einem gewissen Winkel zum Auge bringen mußte, um sie überhaupt sehen zu können? [...] Sie sprechen eine Sprache, die ist so reich, so schön; doch keiner der Philologen kann diese Sprache verstehen [...] Ja, wenn man sich nur richtig in sie hineinzusehen weiß, fangen sie an, von der Einfachheit der alten Zeit, von ihrem guten Geschmack, von der allem Gleißnerischen und Protzigen abgekehrten Gediegenheit der Menschen zu predigen, und so öffnen sie uns mählich die Augen über die Kultur einer ganzen Epoche, die wir in törichter Eitelkeit und Selbstüberhebung für abgelebt und überholt halten” [1].
Mit diesen nostalgischen, schwärmerisch-evozierenden Sätzen beginnt eine Rezension zu Wilhelm Weimars Werk über Daguerreotypien [2]. Verfaßt hat ihn Max Lehrs, Direktor des Kupferstich-Kabinetts in Dresden (1886-1924), im Januar 1917 zwei Jahre, nachdem er selbst damit begonnen hatte, derartige "Bildnisse mit Charakter und Seele" [3] für die Sammlung des Kabinetts zu erwerben. Ganz anders hatte dagegen seine Einschätzung 1900 geklungen, als er sich wenig rühmlich äußerte über die ”schrecklichen Daguerreotypien, bei deren Betrachtung man sich einer Art Halsgymnastik unterziehen mußte, um nur das auf der Glasplatte verborgene Bild sehen zu können” [4]. Was bewegte ihn damals zu diesem Sinneswandel? Leider geben die bisher gesichteten, wenngleich sicherlich noch nicht vollkommen erschöpften Quellen auf diese Frage keinen eindeutigen Aufschluß; immerhin aber ließen sich dazu Anhaltspunkte finden [5].
Allgemein gesehen paßte Lehrs Engagement für die Neuerwerbung von Daguerreotypien zu seinen programmatischen Überlegungen bezüglich der didaktischen Vermittlung von Kunst [6]. Das Kupferstich-Kabinett war für Lehrs ein Ort, an dem das Publikum seinen eigenen Kunstgeschmack an ausgewählten Exponaten verschiedener Kunstrichtungen ausbilden sollte. Offenbar unter dem Einfluß von Alfred Lichtwark (Hamburg) fand mit Lehrs ein allgemeiner gefaßter, dokumentarischer und ästhetisch-pädagogischer Auftrag Eingang in die Bestimmung des Dresdner Kabinetts. Ausgehend von seiner Erkenntnis, die ”Kupferstichkabinette kranken, [...] nicht nur am überkommenen und veralteten Namen, sondern auch an überkommenen und veralteten Vorstellungen von Zweck und Ziel ihres Daseins”, fragte Lehrs, ob ”die Kupferstichkabinette [...] nur für Kunsthistoriker da [sein sollten oder] nicht vielmehr zur Pflege und Ausbildung des Kunstempfindens für die Gebildeten aller Stände dienten”. Dafür schienen ihm die Werke moderner Künstler ”ersprießlicher und nützlicher” als die der ”Toten” [7]: ”Die Erziehung zur Kunst, d.h. zum Kunstempfinden und Kunstgenießen, kann und soll nur von ihr [der modernen Kunst, Anm. d. A.] ausgehen und nicht [...] von der alten Kunst” [8]. Wenn auch Lehrs' Hauptaugenmerk weiterhin dem Kupferstich des 15. Jahrhunderts galt, verschrieb er sich mit ebensolcher Leidenschaft der Förderung neuer Richtungen und war damit einer der ersten Museumsdirektoren, der die Bedeutung der modernen, zeitgenössischen Graphik als eigenständige Kunstrichtung erkannte und frühzeitig (zu noch erschwinglichen Preisen) Werke u.a. von Max Klinger, Käthe Kollwitz und Max Liebermann erwarb. Darüber hinaus erweiterte er die Sammlung des Kabinetts durch künstlerische Plakate (1896), japanische Farbholzschnitte (1896-1908) und künstlerische Postkarten (1898). Eine Abteilung mit künstlerischen Fotografien gründete Max Lehrs 1899. Von 76 national und international bekannten Amateur- und Berufsfotografen, v.a. Pictorialisten, erwarb Lehrs insgesamt ca. 200 Werke. Ab 1905 kamen außerdem auch Fotografien auf Wachs- und Salzpapieren von meist unbekannter Herkunft hinzu.
Der Sammlung ”Künstlerische Photographie” begann Max Lehrs 1915 eine weitere Abteilung anzugliedern mit ”den namentlich besten Leistungen aus den Anfängen der Photographie” [9]. Gemeint sind damit Daguerreotypien und "ältere Photographien" (hier Visitkarten und Cabinettbilder). ”In aller Stille” wurde ein Grundstock von zwölf Daguerreotypien gelegt, ein Geschenk von Prof. Dr. Felix Becker aus Leipzig (Abb.1 2), der im Oktober jenes Jahres Max Lehrs diese Inkunabeln der Fotografie übersandte: ”Ein paar freie Stunden benutze ich dazu, die alten Daguerreotypien hervorzusuchen, die Auswahl der besterhaltenen zu treffen und Ihnen diese zuzusenden. Es sind 12 Stück, jede in so frischer Erhaltung, wie sie kaum noch vorkommen, nur auf der Rückseite firmiert aus Leipzig, Hamburg, Paris. [...] Hoffentlich enttäuschen Sie diese Bildchen nicht ganz, [...]” [10]. Max Lehrs zeigte sich alles andere als enttäuscht. Entgegen seinen sonst eher förmlichen und nüchternen Danksagungen erscheint das Antwortschreiben nahezu euphorisch, überschwenglich. Er war angetan von dem Geschenk und bewunderte die ”Schönheit einiger der Stücke [, sowie] die ausgezeichnete Erhaltung, die man so selten bei diesen Sachen findet.” Damit besaß das Dresdner Kupferstich-Kabinett seiner Meinung nach ”eine kleine Sammlung, die sich sehen lassen kann” [11].
In größerem Umfang wurden Daguerreotypien nur in Hamburg am Museum für Kunst und Gewerbe gesammelt, und zwar von dem Assistenten Justus Brinckmanns und wissenschaftlichen Mitarbeiter Wilhelm Weimar [12]. Weimar schaffte es über Jahre hinweg, 275 Daguerreotypien aus dem norddeutschen Raum zusammenzutragen, ebenso recherchierte er ausführlich zu Biographien und erstellte ein ”Alphabetisches Verzeichnis der Lichtbildner in Hamburg-(Altona)”. Ergebnis seiner Sammler- und Recherchetätigkeit war eine 1915 vorgelegte prachtvolle Publikation [13]. Eine größere Ausstellung mit Daguerreotypien richtete Weimar vom 4. Oktober 1915 bis Ende Januar 1916 in den Hamburger Zimmern im Nordflügel des Museums ein [14].
Max Lehrs hat nun offenbar diese Ausstellung gesehen und ist möglicherweise eigens ihretwegen nach Hamburg gefahren. Denn seine Berliner Cousine Martha Lehrs schrieb ihm im Januar 1917 in einem Brief, dem sie eine Stereodaguerreotypie [15] (Abb.2) als Schenkung für das Kupferstich-Kabinett beigab: ”Wir zeigten es [die Stereodaguerreotypie, Anm. d. A.] Dir damals, als Du in der Magdeburgerstr. bei uns warst und gleich darauf nach Hamburg zu einer solchen Ausstellung fuhrst” [16]. Ob Lehrs dort auch Wilhelm Weimar kennenlernte und etwa den Aufbau einer Daguerreotypiensammlung in Dresden diskutierte, ist nicht belegbar. Fest steht aber, daß beide in Korrespondenz standen und Weimar von Lehrs' Vorhaben wußte [17]. Daß dieser Kontakt für Weimar von Bedeutung war, wird in einem Brief an Lehrs vom 26. Januar 1917 deutlich: ”Eine Kette von Erfolgen zeitigen nunmehr unsere gemeinschaftlichen Bemühungen um die daguerreotypischen Leistungen, wie ich aus Ihrem geschätzten Brief vom 19.1. mit Freuden entnehme. Es war ja meine Absicht, mit der oft unter großen Schwierigkeiten zusammengetragenen u. wieder in Ordnung gebrachten Sammlung von Daguerreotypien, mit der Veröffentlichung meiner gemachten Erfahrung und eingehenden Forschungen und mit den Abbildungen, Anregungen zu geben für weitere Kreise, insbesondere für öffentliche Institute, für Museen. Sie sind der erste und bis jetzt der einzige unter den Leitern der öffentlichen Kunstsammlungen Deutschlands, der meine Absichten verstanden und mit dem Sammeln von Daguerreotypien begonnen hat. Darüber freue ich mich u. deshalb werde ich auch Ihr Vorhaben unterstützen so viel ich kann” [18].
In diesem Sinne schenkte Weimar dem Dresdner Kabinett insgesamt vier Daguerreotypien, drei von Carl Ferdinand Stelzner (Abb.4 5), eine von Wilhelm Breuning (Abb.6) und eine Ferrotypie [19]. Ebenso bekam Lehrs nützliche Hinweise zum günstigeren Erwerb von Daguerreotypien: Besonders die fleckig gewordenen Bilder erschienen im ersten Moment wertlos und seien deswegen besonders billig, strahlten jedoch wieder im früheren Glanz, wenn sie fachgerecht gereinigt würden. Manche dieser Ratschläge wirken im Nachhinein wie die Worte eines Lehrers an seinen Schüler, so auch, wenn Weimar den Wunsch äußerte, ob Lehrs ”nicht bei der alten gebräuchlichen Bezeichnung ‘Daguerreotypen’ für die erzeugten Bilder und ‘Daguerreotypie’ für das Verfahren” bleiben wolle [20]. Weimar wollte Lehrs offenbar in seine missionarischen Bemühungen im Dienste der Daguerreotypie einspannen: ”Es wäre eine lohnende Aufgabe, wenn die Lichtbildkunst der ersten 20 Jahre auch in anderen Städten Deutschlands erforscht würde und eine ähnliche Zusammenstellung fände [...] Aus derartigen ortsgeschichtlichen Einzelstudien ließe sich eine Gesamtübersicht über die Daguerreotoypie in Deutschland erreichen. Das Programm liegt also vor Ihnen und es wird Ihnen gelingen mit der Zeit ein hübsches Material von den Arbeiten der Dresdner Daguerreotypisten zusammen zu bringen” [21].
Dieses Unternehmen sollte sich jedoch nicht erfüllen: Weimar war neben Erich Stenger [22] der einzige, der sich zu jener Zeit so umfangreich dieser Arbeit widmete. Ein Hinweis Weimars an seinen Kollegen Kurzwelly aus Leipzig, doch für das Stadtgeschichtliche Museum Daguerreotypien zu sammeln, blieb unbeachtet. Auch Lehrs kam seinen Plänen nicht in vollem Umfang nach; eine umfangreiche Sammlung von regionaler Daguerreotypie nahm er nicht in Angriff. Die Gründe hierfür mögen verschiedener Natur sein. Erstens sind die daguerreotypischen Leistungen der beiden Städte Hamburg und Dresden grundsätzlich nicht vergleichbar. Die Leistungen in Hamburg waren sowohl in qualitativer wie auch quantitativer Hinsicht denen in Dresden überlegen.
Zweitens wollte Lehrs zur Erwerbung von Lichtbildern jeglicher Art (ausgenommen die Reproduktionsfotografie) keine Gelder aus dem Gesamtetat des Kupferstich-Kabinetts verwenden. Diese bescheidenen Ankaufsmittel reservierte er lieber gezielt für Erwerbungen, die ihm für das Kabinett bedeutsamer erschienen [23]. Lehrs versuchte die Sonderabteilungen, wie in diesem Fall die der Daguerreotypien, ausschließlich durch Schenkungen oder Stiftungen zu vermehren, überreicht durch Verwandte, Bekannte oder Freunde, aber auch durch fremde Personen, die aufgrund zweier Artikel vom Januar 1917 [24] und sicherlich auch durch die ab April gezeigte Vierteljahresausstellung [25] dazu angeregt wurden. Jedoch schien, so zumindest sah es Lehrs, die Bereitwilligkeit des Dresdner Publikums, sich zugunsten öffentlicher Museen von ererbtem Besitz zu trennen, bei weitem nicht so ausgeprägt, wie dies in Hamburg der Fall war. Manchmal überließ Lehrs dem Kabinett auch eigene Erwerbungen [26].
Eine dritte Ursache war eher programmatischer Natur: So seien für die Sammlung ”nur die künstlerisch hervorragendsten Stücke auszuwählen, und auch diese nur, soweit ihre Erhaltung eine tadellose ist” [27]. Sind die Bildränder augrund undichter Versiegelungen oxydiert, d.h. farbig angelaufen, lohne sich nur in Ausnahmefällen, bei Stücken von künstlerischem Wert oder der abgebildeten Persönlichkeit wegen, die Mühe einer chemischen Wiederherstellung. Solche sogenannten ”minderwertigen” Stücke [28] seien auch nur dann von Interesse, wenn sie wichtige Beispiele für die verschiedenen Ausführungen und technischen Abwandlungen der Daguerreotypie darstellten (beispielsweise kolorierte Bilder oder Stereoskopaufnahmen). Ebenso betrifft dies weitere Aspekte der Unikatfotografie wie Ambrotypien und Ferrotypien. Diese Haltung führte dazu, daß Lehrs oftmals stark selektiv bei der Auswahl der Stücke vorging. Darüber hinaus gab Lehrs seiner Auffassung der Daguerreotypie als "Vorstufe zu unserer heutigen Bildnisphotographie" ein weiteres Selektionskriterium an die Hand. Eine Aufgabe der Kupferstich-Kabinette bestehe u.a. darin, die ”meist um die Mitte des 19. Jahrhunderts abschließenden Bildnissammlungen über die Grenzen hinaus fortzuführen und bis in die neuere und neueste Zeit auszubauen.” Diese Aufgabe falle den Kupferstich-Kabinetten und nicht den Kunstgewerbemuseen zu, denn als Bildnisse gehörten Daguerreotypien wie auch Fotografien zweifellos zu ihrem Ressort, ”wo sie eine natürliche Fortsetzung der dort aufbewahrten Porträtsammlung bilden.” Ergebnis war, daß Lehrs ausschließlich Bilder ”nach dem Leben” sammelte, und dies würde auch erklären, warum sich in der Sammlung keine Landschafts- oder Stadtdarstellungen oder Aufnahmen von Verstorbenen im Totenbett befinden [29].
Im Gegensatz zu Weimar, der für eine umfassende Dokumentation der frühen Hamburger Fotografie möglichst viel erwerben und sammeln wollte, hatte es Lehrs also eher auf einzelne, repräsentative Stücke abgesehen, bei denen der bildhafte Aspekt der Fotografie betont wird. Gemäß seinem Verständnis der Kupferstich-Kabinette als Schulen des guten Geschmacks gehörte dorthin auch alles, was dies im weitesten Sinne förderte, somit auch die Daguerreotypien, da sie den "Höhepunkt künstlerischer Darstellung" vermittels einer neuen Technik dokumentierten. Dabei vertrat er den Standpunkt, daß es zur repräsentativen Darstellung der Epoche durchaus genüge, eine Auswahl von etwa 100 Daguerreotypien zusammenzutragen, und somit hält er die jüngste, erst 1915 eingerichtete Abteilung zwei Jahre später bereits für nahezu abgeschlossen [30].
Ablesbar ist diese Tendenz auch an der Erwerbungsgeschichte. Waren es im ersten Jahr insgesamt zwölf Daguerreotypien und zwei Ambrotypien, die die fotografische Sammlung erweiterten, so stieg die Zahl der Neuerwerbungen in beiden darauffolgenden Jahren auf durchschnittlich 36 Daguerreotypien und sieben Ambrotypien pro Jahr. Ab 1918 reduzierten sich die Erwerbungen allmählich von anfangs sieben Daguererotypien und einer Ambrotypie stufenweise auf letztendlich (1922) eine erworbene Daguerreotypie pro Jahr. Insgesamt gelangten somit unter Max Lehrs ca. 107 Daguerreotypien sowie siebzehn Ambrotypien, eine Ferrotypie und eine Pannotypie in die Sammlung [31].
In ihr sind bekannte Namen vereint, darunter solche wie Carl Ferdinand Stelzner und Hermann Biow (beide Hamburg), Josef Weninger (Österreich), weiter Eduard Wehnert und Bertha Wehnert-Beckmann (beide Leipzig), Philipp Graff und Louis Sachse (beide Berlin), ebenso Hermann Krone und Constantin Schwendler (beide Dresden), sowie eine Vielzahl bisher nicht zugeschriebener Stücke. Eine Besonderheit von ausgezeichneter Qualität und wohlüberlegter Komposition ist eine Daguerreotypie in sogenannter Übergröße (Platte 24x18,6 cm) von Eduard Wehnert. Seltenheitscharakter besitzt außerdem ein Union Case aus Amerika mit dem Motiv ”The vision of Ezechiel” (Abb.7), welches heute im Handel als ”very rare” eingestuft wird [32]. Beachtenswert ist ebenso die Tatsache, daß es sich bei dem heutigen Aufbewahrungsort der Unikatfotografien, einem Holzschrank mit zehn Schubfächern, deren Böden mit hellgrünem, gerippten Samt ausgekleidet sind, um den Originalschrank aus der Zeit von Max Lehrs handelt.
Was also um die eingangs gestellte Frage wieder aufzunehmen bewirkte Lehrs' Sinneswandel bezüglich der Daguerreotypie? Es ist stark zu vermuten, daß Wilhelm Weimar indirekt den entscheidenden Impuls gab. Die Gründung der neuen Abteilung im Kupferstich-Kabinett fällt in die Zeit von Weimars öffentlichen Bemühungen um die frühe Phase der Fotografie, was sicherlich das allgemeine Interesse an der Daguerreotypie beförderte. Weimars Wirken machte Lehrs offenbar auch erstmalig auf diese Art von Fotografie aufmerksam und ließ ihn ihre künstlerische Qualität und ihren Wert erkennen. Der persönliche Kontakt zwischen Weimar und Lehrs tat aller Wahrscheinlichkeit nach ein übriges. Lehrs' Ansatz war zwar ein anderer als der von Weimar, aber jeder von ihnen versuchte auf seine Weise, die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese wichtige Phase in der Entwicklung der Fotografie zu lenken.
Die Dresdener Daguerreotypiensammlung ist keine systematische Dokumentation von ortsansässigen oder sächsischen Daguerreotypisten; die Stücke stammen aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands, darüber hinaus aus Österreich, Polen, Amerika und Frankreich. Auch ihre Eigenschaft als qualitative Auslese kann heute nicht mehr in Gänze nachvollzogen werden, da die Zeit Spuren bei den Daguerreotypien hinterlassen hat und einige der Bildnisse nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand erkennen läßt. Lehrs' Qualitätsvorstellungen müssen zudem natürlich als historisch bedingt angesehen werden, und zwar in doppelter Weise: sowohl in Bezug auf seine ästhetische Haltung wie auch - als Teil dieser Haltung - auf seine positive Rezeption des damals bereits historischen Biedermeier, das prägend auf die Daguerreotypie wirkte.
Bedeutung erlangt die Sammlung aber, wenn man sie selbst als Dokument und Symptom betrachtet. Erstmals in Deutschland hat hier frühe Fotografie Eingang in eine öffentliche Kunstsammlung gefunden. Das Medium Daguerreotypie wird neu kontextualisiert, erfährt somit eine grundsätzlich neue Wahrnehmung als Kunst. Und indem Lehrs sie als historisches Verfahren zwischen die Bildnismalerei und -fotografie einreiht, zeigt er vorher nicht hergestellte, medienübergreifende Kontinuitäten auf. Darüber hinaus ist die Sammlung, konzipiert als qualitative Essenz einer Bewegung, ein Symptom von Lehrs' ästhetischer Orientierung und seines Verständnisses von Kunstvermittlung, das er hauptsächlich von Lichtwark bezog. Er integrierte, inspiriert von Weimar, die Daguerreotypie in die Kunstsammlung des Kupferstich-Kabinetts Dresden, eine "Schule des Sehens" im Lichtwarkschen Sinne. Was also in Hamburg nicht gelang, war Lehrs' eigentliche Innovation: In Kombination der Ansätze von Weimar und Lichtwark schuf er in Dresden die erste deutsche Daguerreotypiensammlung in einem Kunstmuseum.
© Franziska Schmidt, 2001
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